In Frankreich Tausende auf den Straßen gegen den Ausnahmezustand

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france 300116 POUR NOS libertes01.02.2016: Nach drei Monaten Ausnahmezustand muss Frankreich sich davon wieder frei machen. Das war der gemeinsame Nenner der Demonstrationen, die am letzten Samstag (30. Januar) in rund 70 französischen Städten stattfanden. Trotz des anhaltenden Regens haben mehrere tausend Menschen daran teilgenommen. Dazu aufgerufen hatten mehr als hundert Vereinigungen verschiedenster Couleur, die sich in den zwei Kollektiven „Wir weichen nicht“ und „Stop Ausnahmezustand“ zusammengeschlossen hatten.

Dazu gehörten die französische Liga der Menschenrechte, Attac, die Gewerkschaftsbünde CGT, FSUI und „Solidaire“, die Gewerkschaft der Justizbeamten (SM) und die Gewerkschaft der Journalisten (SNJ), die Vereinigungen der Marokkaner, Tunesier und Algerier in Frankreich, die Freidenkervereinigung und das „Kollektiv gegen Islamophobie“. Unterstützt wurde die Aktion auch von politischen Parteien wie der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), der „Linkspartei“ (PG), „Ökologie Europa – Die Grünen“ (EELV) und der Neuen Antikapitalistische Partei“ (NPA).

„Es ist notwendig und möglich, dass der Staat die Bewohner vor dem Terrorismus schützt, aber ohne die demokratischen Rechte und Freiheiten in Frage zu stellen. Wir verweigern uns einer Gesellschaft verallgemeinerter Kontrolle, einer Gesellschaft, die von der Unschuldsvermutung zur generellen Schuldvermutung abgleitet“, hieß es in einem Flugblatt der Veranstalter, in dem sie „den sofortigen Stopp der Repression und der Stigmatisierung von Demonstranten, Aktivisten der sozialen Bewegungen. Migranten oder vermuteten Migranten und der bevölkerungsreichen Stadtviertel“ forderten.

paris Manifestation 300116In Paris rund 20 000 Demonstranten (5000 laut Polizei) etwa zwei Stunden lang vom Platz der Republik zum Palais Royal, dem Sitz des französischen Staatsrates, der zugleich das oberste Verwaltungsgericht ist und Gesetzentwürfe auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen hat. In der Spitzengruppe mit dabei der Generalsekretär der CGT, Philippe Martinez, der Nationalsekretär der französischen Kommunisten (PCF), Pierre Laurent, und der Abgeordnete Noel Mamère von den Gründen. Weitere Demonstrationen zum gleichen Zeitpunkt gab es u. a. in Bordeaux, Toulouse, Marseille, Nizza, Grenoble, Saint-Etienne, Nîmes, Limoges, Nancy, Metz, Lille und Straßburg.

Ursprünglich war die Verhängung des Ausnahmezustands unmittelbar nach den Attentaten am 13. November in Paris, die 129 Tote und mehrere hundert Verletzte verursacht hatten, von vielen Franzosen durchaus gebilligt worden. Als Staatschef Hollande aber am 16. November die Absicht verkündete, den zunächst auf 12 Tage befristeten Ausnahmezustand auf drei Monate zu verlängern und eine Verfassungsänderung für die Aufnahme eines speziellen Artikels zum Ausnahmezustand in die Verfassung in Gang zu bringen, wurden Befürchtungen laut, dass hier von der sozialdemokratischen Staats- und Regierungsspitze unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung alte Forderungen der Rechtsparteien und des rechtsextremistischen FN verwirklicht werden. Die auf die generelle Einschränkung der demokratischen Rechte und Freiheiten abzielen. Mit dem Ausnahmezustand begründete Verbote gegen von der Ökologiebewegung initiierte Demonstrationen während der Pariser Klimakonferenz und mehr als 2000 Hausdurchsuchungen, 300 Festnahmen und 360 verhängte Hausarreste, die aber nur zu ganzen zwei gerichtlichen Voruntersuchungen geführt hatten, sowie die Vorladung von Gewerkschaftern zur Polizei, die Zusammenkünfte vor Betriebstoren gegen drohende Entlassungen und andere soziale Untaten organisiert hatten, verstärkten diese Befürchtungen. Nach Hollandes Neujahrsrede kam hinzu, dass er darin angekündigt hatte, den vom Parlament bis zum 26. Februar befristeten Ausnahmezustand noch einmal um weitere drei Monate zu verlängern.

Hinzu kam die Ankündigung von Hollande und seinem Premierminister Valls, einen Gesetzentwurf zur Erweiterung der juristischen Möglichkeiten zur Aberkennung der französischen Nationalität (Staatsbürgerschaft) vorzulegen. Sie sollte für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft gelten (also für Menschen, die in Frankreich geboren sind und daher per Geburt die französische Staatsbürgerschaft besitzen, aber zusätzlich infolge der Herkunft der Eltern aus anderen Staaten eine zweite Staatsbürgerschaft erwerben konnten), wenn sie wegen terroristischer Straftaten verurteilt wurden. Die löste bei Menschenrechtsaktivisten, Juristen, Immigrantenvereinigungen und Anhänger linker und demokratischer Werte bis weit in die Reihen der „Sozialistischen Partei“ und ihre Parlamentsfraktion hinein einen wahren Proteststurm aus. Viele beurteilten dies als einen Angriff auf grundlegende Werte der französischen Republik, zu denen das Prinzip der „égalité“, also der Gleichbehandlung aller in Frankreich geborenen Menschen und das „Recht des Bodens“ , also der Zugehörigkeit aller in Frankreich geborenen Menschen zur französischen Nation unabhängig von Herkunft und Abstammung gehören.

Hollande verlor sein letztes linkes Feigenblatt

france Christine TaubiraDieser Vorstoß in Sachen „Aberkennung der Nationalität“ führte auch dazu, dass die Hollande-Valls-Regierung ihr letztes linkes Feigenblatt verlor. Justizministerin Christine Taubira, aus Französisch-Guyana stammend und dunkler Hautfarbe, in der Vergangenheit schon mehrfach Ziel übler rassistischer Diffamierungen und heftiger Angriffe der reaktionären Rechtskreise und Rechtsextremisten, u. a. weil sie die gleichgeschlechtliche Eheschließung (Homo-Ehe) in Frankreich durchgesetzt hatte, warf das Handtuch und erklärte am 27. Januar ihren Rücktritt. Schon 2014 waren die zum „linken Flügel“ der Sozialisten gehörenden Minister Montebourg und Hamon sowie die grüne Umweltministerin Duflot wegen Unvereinbarkeit ihrer Vorstellungen mit dem „sozialliberalen“ Kurs von Hollande und Valls aus der Regierung ausgeschieden. PCF-Sekretär Laurent stellte deshalb nicht zu Unrecht fest, dass der Rücktritt von Frau Taubira eine weitere Bestätigung dafür sei, dass die Verbundenheit mit Werten der Linken nicht mit den politischen Orientierungen von Hollande und Valls vereinbar ist.

Text: G. Polikeit  Fotos: Aufruf pcf / JeanneMenjoulet&Cie / ActuaLitté