Heinz Stehr: Kein Schlussstrich!

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kein schlussstrich16.07.2018: Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Sch. Nach über 400 Verhandlungstagen wurde am 11. Juli 2018 das Urteil verkündet. Während im Gerichtssaal die letzten Worte des Prozesses gesprochen werden, demonstrierte die bundesweite Kampagne Kein Schlussstrich in vielen Städten Deutschlands. Patrycja Kowalska, Pressesprecherin des Bündnisses, erklärte: „Auch nach 5 Jahren Jahrhundert-Prozess gibt es mehr Fragen als Antworten. Solange die Anliegen der Betroffenen und Angehörigen um Aufklärung, Rehabilitation und Gedenken nicht gehört werden, das gesamte Netzwerk des NSU nicht enttarnt, die staatlichen Verwicklungen nicht offengelegt werden und dies alles nicht Konsequenzen nach sich zieht – solange fordern wir: Kein Schlussstrich.“

Bereits 2006 organisierten Familien der Opfer des NSU-Terrors Schweige- und Trauermärsche in Kassel und Dortmund. Doch erst nach der Selbstenttarnung des NSU-Komplexes begann eine breitere gesellschaftliche Solidarisierung. Zum Prozessauftakt am 13. April 2013 gingen in München über zehntausend Menschen aus der ganzen Bundesrepublik auf die Straße. In den letzten Jahren gründeten sich zahlreiche Initiativen in Solidarität mit den Betroffenen des NSU-Terrors, die das über 5 Jahre andauernde Gerichtsverfahren protokollieren (https://www.nsu-watch.info/), Recherchen zum NSU-Netzwerk einbringen, die Kontinuitäten zu heutigen rechtsterroristischen Strukturen aufdecken, die Mitverantwortlichen des NSU anklagen (http://www.nsu-tribunal.de/anklage/) und gemeinsam eine rückhaltlose Aufklärung einfordern. Zusammen wurde damit eine kritische Gegenöffentlichkeit zur Position der Bundesanwaltschaft entwickelt, welche die Aufdeckung des NSU-Netzwerks und der Verwicklungen staatlicher Behörden in die Mordserie blockiert.

Die bundesweiten Demonstrationen machten deutlich, dass aus dem NSU-Komplex keine ernsthaften politischen Konsequenzen gezogen wurden.

Wir dokumentieren die Rede von Heinz Stehr, DKP Elmshorn, auf der Kundgebung in Elmshorm  am Tag des Urteils zum NSU-Prozess.

Liebe Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen!

stehr elmshorn  kein schlussstrich5 Jahre nach Prozessbeginn endlich ein Urteil, 13 Jahre nach Beginn der Nazi- Mordserie. Es wird suggeriert, dass die NSU eine isolierte Einzelgruppe gewesen sei. Aber stimmt das? Die bekannte Fernsehdokumentation und der Krimi von Schorlau zur Mordserie lassen eine andere Bewertung zu:

Es gibt Netzwerke der Nazis, die illegal und legal wirken. Mehr als 100 Morde wurden von Nazis in den letzten Jahren begangen. 40 - 45 Agenten des Verfassungsschutzes wirkten in diesen Gruppen. Jeden 2. Tag wird eine Asylunterkunft in der BRD angegriffen. Das alles ohne Vernetzung und Absprachen?

Das politische Umfeld bleibt günstig für neonazistisches Wirken: Rassismus, Fremdenhass, Ausländerfeindlichkeit ist an der Tagesordnung.

Die herrschende Politik kriminalisiert Asylsuchende, Flüchtlinge und Verfolgte sowie deren Unterstützer. Während im Mittelmeer Menschen elendig ertrinken will Innenminister Seehofer die Flüchtlinge an Grenzen einsperren. Er rühmt, dass an seinem 69 . Geburtstag 69 Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben wurden. Einer von ihnen hat sich in Kabul erhängt! Welch ein Geburtstagsgeschenk!

Zusätzlich wirkt die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Faschismus in der Geschichte der BRD. Im Bundestag sagt der Fraktionsvorsitzende der AfD Gauland: „die Zeit des Faschismus sei ein Fliegenschiss in der Geschichte“. Ungeheuerlich angesichts der 56 Millionen Toten des faschistischen Weltkrieges, der Ermordung von 6 Millionen jüdischen Mitbürgern und von ungezählten hunderttausenden politischen Gegner, der Versklavung von Völkern und der Vernichtung von Städten, Orten und Dörfern samt Bewohner. Wenn ein Abgeordneter des Bundestages so etwas sagt, scheint das auch ein Freibrief für Nazis heute zu sein, faschistisch zu wirken.

In der Bundesrepublik nach 1949 waren die meisten Abgeordneten früher Mitglieder der NSDAP gewesen. Kiesinger als Kanzler, Lübke, Carstens als Bundespräsidenten waren belastete Nazis. In Elmshorn konnte der Ausschwitztäter Dr. Lucas als Arzt arbeiten, bevor er enttarnt wurde.

Diese kurz skizzierte Situation erzeugt auch deswegen neue Gefahren, weil wir in instabilen politischen Verhältnissen leben. Viele ungelöste Probleme existieren und wirken in dieser Umbruchzeit. Neue Gefahren international und im Lande signalisieren neue Herausforderungen auch für die antifaschistische Bewegung.

In Österreich wird die FPÖ als Teil der Regierung international akzeptiert, noch vor wenigen Jahren wurde in der EU mit Boykott gegen eine solche Regierung gedroht, heute drängelt sich Innenminister Seehofer neben diesen deutschnationalen Reaktionären, - ein Schelm, wer dabei an Bündnisse von CSU und AfD in der Zukunft denkt?!

Die AfD hat die SPD in der Wählergunst überholt- so die Momentaufnahme.

Was passiert in diesem Land, wenn die Krisenerscheinungen im System zunehmen werden? Wie wird sich das Klima in der Gesellschaft ändern? Welchen Stellenwert hat dann Antifaschismus, Willkommenskultur und Humanismus?

Das politische Klima kann sich weiter nach Rechts entwickeln.

Wir müssen dagegen halten, antifaschistisch aktiv bleiben, uns überall gegen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Neofaschismus wehren!

Aktuell müssen wir den Kapitän der „Lifeline“, der in Malta vor Gericht steht wegen der Rettung von Menschen aus Seenot, verteidigen. Wir müssen die Charta der UN, die Menschenrechte und das grundgesetzliche Recht auf Asyl verteidigen.

Für unsere heute lebenden Generationen gibt es eine Verpflichtung aus der Geschichte: wir können wissen, was Faschismus an der Macht bedeutet - diese Herausforderung betont die Ausschwitzüberlebende Ester Behjerano immer wieder.

12 Antifaschisten in Elmshorn bezahlten in der Zeit des Faschismus ihren Widerstand mit dem Tod.

Wir haben gegen das Vergessen Stolpersteine verlegt, Hinweistafeln an Orten des Widerstandes durchgesetzt, einen Stadtplan der Stolpersteine am Alten Markt initiiert.

Wir waren und sind sofort aktiv gegen jede Naziprovokation, das muss so bleiben!

Faschismus ist ein Verbrechen! Kein Schlussstrich verlangt Engagement! Wir sind aktiver Teil der Bewegung die heute bundesweit auf der Straße demonstriert!

Lasst uns prüfen, ob wir in Elmshorn die Forderung vertreten sollten, den alten Markt nach Nelson Mandela zu benennen. Er war Zeit seines Lebens Kämpfer gegen Rassismus und Faschismus, für Humanismus, Solidarität und Frieden.

Das wäre auch ein Signal für ein antifaschistisches Klima in Elmshorn und ein Beitrag gegen falsche Schlussstriche.