100 Jahre Novemberrevolution

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03.10.2017: Die Novemberrevolution in Deutschland, die in Kiel ihren Anfang nahm, war ein ganz besonderes Ereignis in der Geschichte Deutschlands. Erstmalig wagte die Arbeiterklasse, oft noch in Uniformen der kaiserlichen Armee oder Flotte, den offenen Bruch mit dem militaristisch-kapitalistischen System. Die imperialistische Kriegspolitik war nachweislich gescheitert und hatte Not, Elend und Zerstörung in bisher nicht dagewesenem Ausmaß hinterlassen.

Die bis dahin in Deutschland Herrschenden hatten das Volk verraten und betrogen,  die Arbeiter und Soldaten, aber auch andere große Teile der Bevölkerung  das Vertrauen in die Herrschenden verloren. Die Mehrheit der Menschen verstand die Aufforderungen revolutionärer Kräfte für alternative sozialistische Forderungen zu kämpfen und handelte danach. Angefeuert wurde die Novemberrevolution durch die siegreiche Oktoberrevolution in Russland. Revolutionäre Politik und Kämpfe der Arbeiterbewegung, aber auch die Erfahrungen der bürgerlichen Revolution von 1848/49 wirkten stimulierend oder waren als Erfahrung wieder präsent.

Die von der herrschenden Klasse und dem Monarchismus zu verantwortende Katastrophen des 1. Weltkrieges in Europa und Deutschland hatten so  grauenhafte Folgen, dass es zu einem Sturm des Kampfes für Veränderungen in der Gesellschaft kam.

Revolutionen sind Lokomotiven der Geschichte (Karl Marx), sie sind großartiger Ausdruck für den Willen der Menschen, ihre Lebenssituation grundlegend zu verändern. Die Novemberrevolution 1917 bleibt ein herausragendes Ereignis in der deutschen Geschichte, aber auch für die progressiven Kräfte in dieser Welt. Nicht zuletzt wirkte sie für unsere Generation der nach dem 2. Weltkrieg Geborenen immer inspirierend für den eigenen Kampf und das eigene und kollektive Leben. Das galt auch für die Zeit der Illegalität der KPD zwischen 1956 und 1968.

Die Erfahrungen des revolutionären Kampfes bestimmen die Politik, die Programmatik und Organisationsstrukturen heutiger Arbeiterbewegung, in besonderem Maße der kommunistischen Bewegung. Die KPD wurde in den revolutionären Ereignissen zur Jahreswende 1918/19 gegründet.

Im Wirken kommunistischer Generationen danach spiegelten sich vor allem notwendige, oft erfolgreiche Kämpfe, aber auch erlittene Niederlagen und begangene eigene Fehler wider. Geschichtliche Abläufe seit 1917 wurden maßgeblich mitbestimmt, bis 1990 veränderte sich die Welt unter dem Einfluss kommunistischer Politik.

Die Niederlage des Sozialismus in Europa hat viele subjektive und objektive, äußere und innere Gründe. Wesentliche Ursachen für den Zusammenbruch und die Zerschlagung benennen wir im Programm der DKP von 2006.

Sie hat die These von einem unumkehrbaren, stetigen Weges des Sozialismus widerlegt, aber zugleich bis heute keine Beweise geliefert für die Behauptung der Überlebtheit sozialistischer Veränderungen, im Gegenteil: Immer wieder und immer neu zeigt sich die Notwendigkeit der revolutionären Veränderung dieser Welt .

Um dafür die Voraussetzungen zu schaffen und die entsprechenden Schritte zu gehen, ist es nötig aus der Geschichte zu lernen.

Was waren die wesentlichen Verläufe, Erfahrungen und Ergebnisse der Novemberrevolution?

Das kaiserliche Deutschland wollte den Krieg, um die Interessen der deutschen Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer bestmöglich bedienen zu können. Die Jagd nach billigen Rohstoffen, neuen Absatzmärkten, billigen Arbeitskräften und die Eroberung von Territorien in Europa wie anderen Regionen der Welt rechtfertigte aus Sicht vor allem des Großkapitals und des Adels sowie der politischen Herrscher diese menschenverachtende, mörderische, planmäßig organisierte Kriegspolitik. Patriotismus, maßlose Propaganda und der Verrat rechtssozialdemokratischer und jener bürgerlichen Kräfte, die plötzlich auch ihre Kriegsbegeisterung entdeckten,  machten den Krieg möglich.

Diese Politik wurde als alternativlos dargestellt und versprach ein besseres Leben für nachfolgende Generationen. Massenmanipulation wurde gezielt und wirkungsvoll genauso eingesetzt wie Kriegsgegner erbarmungslos verfolgt wurden. Die Mehrheit der bis dahin erkämpften sozialen und politischen Rechte und Leistungen wurden vernichtet.

Alles wurde in den Dienst dieser Kriegspolitik gestellt, freiwillig oder erzwungen. Das Militär und seine Ordnung bestimmte das Leben. Nationale Besoffenheit erstickte Klassenerkenntnisse und jegliche Form des Humanismus und der Demokratie.

Kriege brechen niemals aus – sie werden planmäßig vorbereitet und sind das Produkt politischer und ökonomischer Interessen und entsprechender Zielstellungen. Sie gehören aus dieser Sicht notwendigerweise zum Kapitalismus. Der französische Sozialist Jean Jaures sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“

Es war ein Krieg mit dem Ziel einer Neuaufteilung der Welt – im Interesse der jeweiligen nationalen Großbourgeoisien, der Banken und Konzerne.

Im Vorteil war zunächst der Angreifer, der mit äußerster Brutalität vorging. Militärs erzwangen sogenannte Siege zunächst gegen deutlich schwächere Gegner. Die Technisierung des Kriegsgeräts und das Ausmaß der Kriegsproduktion sicherte Deutschland und seinen Verbündeten vorübergehende Überlegenheit. „Erfolge“ erstickten Kritik und nährten Hoffnungen auf ein schnelles Erreichen der Ziele und ein rasches „erfolgreiches Ende“. Wie wir wissen wuchsen erst im Laufe des Krieges auch angesichts der Opfer Einsichten über die neuen Gefahren, über die grausamen Seiten des Krieges. Widerstand gegen den Krieg war immer auch das Produkt von Erfahrungen, des Hinterfragens, des Durchdenkens und der notwendigen Debatten.  Antikriegsagitation entstand auch aus unterschiedlichen politischen Sichtweisen verschiedener weltanschaulicher und politischer Kräfte.

Der Verlauf des 1. Weltkrieges zeigte bis 1918 immer deutlicher die verbrecherische Sinnlosigkeit des Krieges. Die Auswirkungen des Krieges für die Heimat waren katastrophal.

Je deutlicher die Niederlage erkennbar wurde, desto aggressiver reagierte der äußerst reaktionäre Machtapparat. Diese Situation war unlösbar mit der Zuspitzung von Widersprüchen, dem Aufbrechen von Widerstand und einer neuen gesellschaftlichen Suche nach Lösungen verbunden. Eine Zeit, in der jähe Wendungen möglich wurden, in der einzelne Aktionen und Signale Initialcharakter haben können. z. B. die Aktionen der Spartakusgruppe bzw. „Gruppe Internationale“ und anderer Kriegsgegner, die Auswirkungen der USPD-Gründung 1917, die Aprilstreiks sowie die ersten Aktionen in der kaiserlichen Marine 1917 gegen den Krieg. Ich verweise kurz auf diese Beispiele ohne das hier weiter auszuführen.  

Doch trotz Terrors und Verfolgung gingen auch in den Folgemonaten und im Jahr 1918 die Aktionen weiter.

So, als die kaiserliche Marineführung das erneute Auslaufen der Flotte am 31.10.1918 befahl, um das sinnlose Schlachten fortzuführen, die mit dem sicheren Untergang und damit dem Tod tausender Matrosen und Offiziere geendet hätte. Der Widerstand dagegen wurde in den Arbeiter- und Soldatenräten geplant, die sich in kleinen Gruppen organisiert hatten, miteinander vernetzt und in der Lage waren, zwischen Standorten zu kommunizieren.

Die Matrosen hielten dem Terror und den Erschießungsdrohungen stand. Im Gewerkschaftshaus Kiel versammelten sich am 1. November 1918 die Vertrauensleute der Schiffe und Landeinheiten. Sie berieten und beschlossen gemeinsam mit Arbeitern eine Kundgebung durchzuführen. Karl Artelt, der gewählte Vorsitzende, formulierte die Forderungen zur Freilassung aller Inhaftierten und die politischen Forderungen. Am nächsten Tag während einer Großkundgebung geht es auch um die Beendigung des Krieges. Die folgende Demonstration wird zunächst mit Waffengewalt gestoppt.

Am 4. November wurden die Forderungen der Matrosen zunächst zurückgewiesen. Daraufhin beschlossen die Gewerkschaften den Generalstreik. Arbeiter und Soldaten hatten faktisch die Macht übernommen. Sie diktieren ihre Forderungen:

Der Gouverneur Admiral Souchon musste erfahren, dass darüber keine Diskussion mehr möglich war.

Über Kiel wehten rote Fahnen. Der Ordnungsdienst übernahm es, die öffentliche Ordnung zu sichern. Noske wurde am 5. November zum Vorsitzenden des Soldatenrates gewählt, am 7. November wurde er Gouverneur von Kiel. Dort begann er, im Auftrag der SPD-Führung mit seinem Handeln und seinem Auftreten mitzuhelfen, die Revolution zu ersticken.

Das Signal von Kiel gab den Startschuss für die Massen zum revolutionären Handeln im ganzen Deutschen Reich. Am 9. November sollte die Entscheidung über den Sieg der Revolution in Berlin fallen. Die Spartakusgruppe um Karl Liebknecht wurde zu einem aktiven Kern der Erhebung.

Die rechten Führer der SPD und auch Teile der USPD-Führung suchten in diesen Stunde nach Wegen zur Verhinderung der Revolution. Am 8. November bewaffneten sich Berliner Arbeiter und verbrüderten sich mit revolutionären Soldaten. Am 9. November rief Philipp Scheidemann nach Absprache mit der SPD-Führung die Republik aus. Eine provisorische revolutionäre Regierung entstand. Karl Liebknecht erkannte das Manöver und rief am  Nachmittag die Sozialistische Republik aus.

Es begann eine Zeit nicht eindeutig geklärter Machtverhältnisse, die einerseits von der Regierung, andererseits von den Führern der revolutionären Kräfte um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und ihren Anhängern der sozialistischen Revolution geprägt waren. Weitergehende gesellschaftspolitische Forderungen wurden nach dem 9. November gestellt und diskutiert.

Auf dem Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. bis 21. Dezember im Reichstag erhielt die SPD-Führung eine Mehrheit zur Einberufung der Nationalversammlung. Die Arbeiter- und Soldatenräte wurden entmachtet. Es kam zur Kooperation der Reichsregierung mit der alten Militärführung. Auch mit militärischer Gewalt wurde die Revolution erstickt.

Am 28. November 1918 hielt Karl Liebknecht seine berühmte Rede, die er mit „trotz alledem“ beendete. Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht viehisch ermordet. Zuvor, während der Jahreswende 1918/19, hatten sie mit anderen Revolutionären die KPD gegründet. Die KPD, gerade erst gegründet, verlor ihre herausragenden Führer.

Welche Erfahrungen bleiben?

Aktuell bittet der NDR Bürgerinnen und Bürger um Dokumente aus persönlichem Besitz, um zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution in Deutschland eine neue umfangreiche Dokumentation zu erstellen.

In Kiel bereiten Bündnisse, Gewerkschaften und linke Parteien Veranstaltungen vor, die sich mit Aspekten der Novemberrevolution beschäftigen Zum 90. Jahrestag der Revolution führte der DKP-Parteivorstand eine Veranstaltung in Kiel durch. Ich eröffnete sie und machte darauf aufmerksam, dass die Eigentumsfrage heute stärker beachtet werden muss - eine Schlussfolgerung aus den historischen Erfahrungen. Das ist zweifelsohne auch heute noch wichtig, aber heute geht es auch um andere Fragen.

Angesichts sich entwickelnder neuer Kriegsgefahren sollten wir auch die historischen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen nutzen, um die Position für den Frieden zu unterstreichen.

Die Existenz der Menschheit kann durch die Eskalation stattfindender Kriege und neue Konflikte ernsthaft bedroht werden. US-Präsident Trump verstärkt durch seine aktuellen Handlungen und Äußerungen diese Gefahren.

Die Novemberrevolution war auch Ausdruck des Kampfes gegen Hunger und für soziale Leistungen und Rechte. Diese elementaren Menschenrechte sind längst auch für große Teile der Menschheit und auch für größer werdende Teile der Bevölkerung der BRD akut bedroht. Das hat eine große gesellschaftliche Sprengkraft. Die Elementarinteressen der Menschen dürfen Marxistinnen und Marxisten nicht vernachlässigen. Die Fluchtproblematik, der anwachsende Nationalismus und Chauvinismus führen uns ständig vor Augen, wie schnell und sprunghaft gravierende Probleme dieser Welt eskalieren können mit möglichen weitreichenden Folgen für die Menschheit.

Es gibt auch im Kapitalismus Möglichkeiten, progressive Veränderungen durchzusetzen bzw. weitere reaktionäre Entwicklungen zu stoppen. In den dafür notwendigen Aktionen und Bewegungen müssen auch wir über das System hinausgehende gesellschaftspolitische Ziele propagieren. Massenbewegungen mit der großen Unterstützung der Bevölkerung sind letztendlich entscheidend auch für gesellschaftspolitische Änderungen antimonopolistischen Charakters und dann auch für die Durchsetzung gesellschaftspolitische Brüche um einen neuen Anlauf für die sozialistische Zukunft zu ermöglichen.

Die Novemberrevolution hatte gegen mächtige und erfahrene Gegner zu kämpfen. Da war die reaktionäre feudalistische-militaristische und die kapitalistische Machtelite mit ihren Waffen, mit der ökonomischen Macht und den Mitteln zur Manipulation. Es war ein Parteiensystem, das sich dem Kapitalismus grundsätzlich verbunden fühlte und gegen jede „bolschewistische“ Revolution kämpfte. Das schloss die Mehrheit der SPD und Teile der USPD ein.

Es fehlte eine einheitliche, revolutionäre, die Massen organisierende Arbeiterbewegung in diesen letzten Kriegsjahren. Die Gewerkschaftsbewegung war zerstört, es gab keine marxistische Partei. Menschen wurden verfolgt, eingesperrt und ermordet. Die Massen folgten letztendlich den Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien. Die Erfolge der Revolution wie der Achtstundentag, das Wahlrecht für Frauen, betriebliche und gewerkschaftliche Rechte und anderes waren bleibende Erfolge, weckten aber auch Illusionen über die Möglichkeiten im Kapitalismus. Die revolutionären Kräfte jener Zeit kämpften mutig und aufopferungsvoll, aber es mangelte offensichtlich an Erfahrung und der Fähigkeit, große Teile der Bevölkerung für weitergehende Ziele zu gewinnen. Auch aus den großen Katastrophen der zwei Weltkriege entstand nicht automatisch die Einsicht, dass es nötig ist für eine neue sozialistische Gesellschaftsordnung zu streiten. Dazu bedarf es der Fähigkeit der Linken im Lande wie international, aus vielen Widersprüchen des Kapitalismus systemüberwindende Politik zu entwickeln und alle Zugänge für sozialistische Ziele zu nutzen.

Welche umfassende gesellschaftliche Aufbruchstimmung revolutionäre Prozesse schaffen können konnte ich bei Besuchen einige Wochen nach der Nelkenrevolution in Portugal, in Venezuela kurz nach der Revolution und auch auf Kuba erleben. 1968 konnten wir in der Bundesrepublik ebenfalls eine Aufbruchstimmung erleben.

Die sozialistische Oktoberrevolution und die Novemberrevolution bleiben historische Ereignisse, die immer wieder auch Mut machen, für eine andere, eine neue, eine sozialistische Welt zu streiten.

Heinz Stehr