Zu den Meinungsverschiedenheiten in der DKP - Ein Diskussionsbeitrag von Georg Polikeit

E-Mail Drucken

georg polikeit28.05.2016: Vorbemerkung: Ich habe mir lange überlegt, ob ich diesen Artikel veröffentlichen soll. Einige Anzeichen für eine demnächst beabsichtigte neuerliche Zuspitzung veranlassen mich aber dazu. Ich möchte den Text jedoch nicht als Aufforderung zu einem weiteren unfruchtbaren Schlagabtausch verstanden wissen und habe mich deshalb auch bemüht, ihn so sachlich wie möglich und so abzufassen, dass sich niemand verletzt fühlen müsste. Er soll lediglich eine Aufforderung zu weiterer sachlicher Debatte sein – weil dies in meinen Augen der einzige Weg zur Bewältigung der entstandenen Probleme ist.

Auch mit einem gewissen zeitlichen Abstand lässt sich nur sachlich feststellen, dass der 21. Parteitag der DKP die in der Partei bestehenden Meinungsverschiedenheiten nicht beseitigt oder wenigstens verringert hat. Der Ablauf des Parteitags, der beschlossene Leitantrag und auch die Wahlergebnisse haben eher zu einer Verhärtung geführt.

Es ist mittlerweile deutlich, dass es nicht bloß um Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Fragen geht. Es gibt zwei unterschiedliche Grundvorstellungen von der Rolle und den Aufgaben einer kommunistischen Partei in der heutigen Situation in Deutschland. Der schon mit dem 20. Parteitag angekündigte „Richtungswechsel“ ist mit dem 21. Parteitag weiter vorangebracht worden.

Nach wie vor wird die Auseinandersetzung vielfach nicht wirklich inhaltlich und sachlich geführt. Stattdessen wird versucht, Meinungen, die mit denen der jetzigen Parteispitze nicht übereinstimmen, als „reformistisch“, „revisionistisch“ oder „opportunistisch“ zu etikettieren und damit als zu bekämpfende „Abweichungen“ auszugrenzen. Es sind diese klischeehaften Abstempelungen und die dadurch bewirkte Emotionalisierung der Debatte, die eine echte Diskussion behindern.

Ich bin mittlerweile 70 Jahre Mitglied einer Kommunistischen Partei in Deutschland. Unter legalen wie unter illegalen Bedingungen. Mein Engagement für die kommunistische Bewegung auch unter schwierigen Bedingungen kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Aber weshalb werde ich dann in die Ecke von „Opportunismus“ und „Revisionismus“ gestellt, weil ich in einer Reihe von Fragen im Ergebnis gründlichen Nachdenkens zu anderen Ansichten gekommen bin als die Mehrheit der derzeitigen Parteiführung? Warum wird mir und all denen, die dem derzeitigen Parteikurs kritisch oder ablehnend gegenüberstehen, mit solchen abwertenden Abstempelungen die Würde von Kommunisten und Revolutionären abgesprochen?

Was ist der Kerninhalt der vorhandenen Meinungsverschiedenheiten?

Nach der Optik der Befürworter des heutigen Mehrheitskurses gibt es da eine Mehrheit, die den richtigen, wahrhaft revolutionären Kurs einer „marxistisch-leninistischen“ kommunistischen Partei verfolgt und diesen gegen eine Gruppe von Abweichlern verteidigen muss. Diese hat sich angeblich ein reformistisches „Transformationskonzept“ zu eigen gemacht und gibt sich opportunistischer Anpassung an die herrschende Ideologie, an bürgerliche und kleinbürgerliche Denkweisen hin.

Aber vielleicht liegen die Dinge doch nicht ganz so einfach?

Ich kenne niemanden in der Partei, der die Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus in Frage stellt. Dass der Sozialismus nicht bloß das Ergebnis einer Serie von Reformen sein kann, ist unumstritten. Die Differenzen ergeben sich nicht in diesem Punkt. Sie ergeben sich in der Frage, welcher Weg unter den konkreten Bedingungen der heutigen Bundesrepublik Deutschland eingeschlagen werden kann und muss, um diesem Ziel näher zu kommen.

Im Hintergrund der Meinungsdifferenzen steht offenbar auch der Frust über die derzeitige Schwäche und unbefriedigende Entwicklung der Partei und generell über die oft unbeweglich festgefahren erscheinenden Verhältnisse in der BRD. Mit abnehmender Mitgliedschaft, dramatisch gewachsener Überalterung und immer mehr nachlassender Aktionsfähigkeit steckt die DKP in einer existenziellen Krise. Die Frage nach dem Ausweg aus dieser Krise wird unterschiedlich beantwortet.

Allem Anschein nach hat sich in einem Teil der Partei die Ansicht festgesetzt, dass diese Situation ihre Ursache in erster Linie darin hat, dass sich die DKP in der Vergangenheit zu wenig von den anderen linken Kräften und Strömungen abgegrenzt, ihre Besonderheit als klassenkampforientierte Partei mit dem richtigen theoretischen Durchblick zu wenig hervorgehoben, zu wenig ihre eigenständige Identität und ihr kommunistisches Selbstbewusstsein betont hat. Deshalb wird der Akzent jetzt verstärkt auf die Abgrenzung gegenüber allen anderen linken Kräften und auf die ständige Betonung unserer klassenkämpferischen revolutionären Haltung, unserer besonderen Rolle als Kommunistische Partei und unserer „kommunistischen Identität“ gelegt.

Dazu passen die Etikettierung der Partei als „marxistisch-leninistisch“, die stärkere Verwendung einer „revolutionär“ oder „radikal“ klingenden Sprache, die durchgängige Forderung von „antimonopolistischen Reformen“, wenn überhaupt von Reformen die Rede ist, die Orientierung auf die Bekämpfung „reformistischer Illusionen“ in Gewerkschaften und Bewegungen als „zentrale Aufgabe“ der Partei. In die gleiche Richtung deuten die neu beschlossene Forderung nach dem „Austritt der BRD aus der EU“, die eindeutig von den bisherigen Aussagen im Parteiprogramm zur EU abgeht, die stärkere Abgrenzung gegenüber Formationen wie der Partei „Die Linke“ und der „Europäischen Linkspartei“ (ELP) und die Festlegung auf möglichst flächendeckende Eigenkandidatur als einzig richtige Verhaltensweise bei Wahlen.

Ich befürchte aber, dass eine solche „Wende nach links“ mit einem vereinseitigten „Avantgarde“-Verständnis uns nicht tatsächlich aus den derzeitigen Schwierigkeiten herausbringen wird. Ich kann nicht glauben, dass die DKP neues Ansehen und neue Stärke gewinnt, wenn sie sich in erster Linie als „Lehrmeisterin“ betätigt, die alle anderen von falschen Auffassungen bekehren will.

Welche Strategie?

Die vielleicht schwerwiegendste Änderung im „neuen Kurs“ der jetzigen Parteispitze ist das Abgehen von der bisherigen strategischen Orientierung der Partei, wie sie im Parteiprogramm von 2006 dargestellt ist. Es zeichnet sich ab, dass das Programm von 2006 überhaupt aufgegeben werden soll. Nicht umsonst spricht ein Teil der Verfechter des heutigen Mehrheitskurses davon, dass die Erarbeitung eines neuen Parteiprogramms anstehe.

Im Parteiprogramm von 2006 wurde aufgrund der gegebenen objektiven Situation in der heutigen Bundesrepublik Deutschland, aufgrund der vorhandenen Kräfteverhältnisse und des Massenbewusstseins das Konzept eines Weges zum Sozialismus über strategische Zwischenetappen skizziert.

Das ist damit begründet, dass es in der Bevölkerung Deutschlands derzeit offenkundig keine Mehrheit für einen grundlegenden Wechsel des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und den Übergang zum Sozialismus gibt. Aber für den Sozialismus ist unabdingbar, dass er sich auf die Zustimmung und Mitwirkung der Mehrheit der Menschen stützen kann. Das hat nicht zuletzt das Scheitern der sozialistischen Staaten in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal eindringlich bestätigt.

Andererseits sind die arbeitenden Menschen in Deutschland aber täglich spürbar mit einer massiven Offensive des Kapitals, mit fortgesetzten Angriffen auf bisherige soziale Leistungen und Rechte, mit der weiteren Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, Maßnahmen zur Senkung der Lohnkosten und zur Ausweitung des Niedriglohnsektors, mit rigorosen Sparmaßnahmen im Sozial , Bildungs- und Gesundheitswesen, mit Notständen im kommunalen Bereich, im Verkehrswesen und bei vielen Infrastruktureinrichtungen, mit einem dramatisch gestiegenen Risiko millionenfacher Altersarmut und neuen Angriffen auf die Höhe der Renten und das solidarische Rentensystem konfrontiert. Das verbindet sich mit der wachsenden Umweltschäden infolge der kapitalistischen Jagd nach Profit, mit der Einschränkung und Beseitigung demokratischer Rechte und dem Trend zu autoritären Herrschaftsmethoden, mit wachsenden Kriegsgefahren infolge imperialistischer Großmachtpolitik und mit einer gefahrdrohenden weiteren politischen Rechtsentwicklung.

Das sind zugleich auch die Themen, in denen sich derzeit in der BRD real Widerstände entwickeln und Klassenkämpfe stattfinden, wenn sie auch im Verhältnis zu den Bedrohungen zu schwach entwickelt sind.

Von dieser Realität ausgehend, geht das Parteiprogramm 2006 von der Einschätzung aus, dass die unmittelbar nächste vor uns stehende Kampfetappe im Wesentlichen eine Etappe von Abwehrkämpfen gegen Kapitaloffensive, Sozialabbau und Rechtsentwicklung, von Kämpfen für die Verteidigung und Durchsetzung der im Grundgesetz verankerten demokratischen Grundrechte sein wird. Das prägt den Charakter der anstehenden Kampfperiode. Allerdings können diese Abwehrkämpfe auch mit Forderungen nach positiven Veränderungen im Interesse der Menschen, mit Kämpfen um soziale, demokratische, ökologische, friedenssichernde und andere progressive Reformen verbunden werden – und verbinden sie sich auch tatsächlich bereits.

Das DKP Programm betont dabei, dass Erfolge in diesen aktuell auf der Tagesordnung stehenden Fragen nur erreicht werden können, wenn ein „qualitativ neues Niveau“ bei der Mobilisierung der Betroffenen erreicht wird und wenn mit der Arbeiterklasse als Hauptkraft „gesellschaftliche Kräfte weit über die Linke hinaus“ in Aktion treten.

Das in dieser ersten Kampfetappe anzustrebende, also nächstliegende strategische Ziel der DKP wird im Parteiprogramm mit dem Begriff von einer „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ bezeichnet. Dieser Begriff schließt die tatsächliche Durchsetzung realer Abwehrerfolge und fortschrittlicher demokratischer Reformen und damit verbunden eine erhebliche Veränderung der heute bestehenden politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in der BRD ein.

Dem soll sich, nachdem eine solche Wende durchgesetzt werden konnte, laut DKP-Programm dann eine zweite Kampfetappe anschließen, deren Inhalt die weitere Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und die Vergrößerung des Einflusses der Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen Schichten der Bevölkerung auf die Entwicklung in der BRD ist. Das könnte zur Durchsetzung weitergehender „antimonopolistisch-demokratischer Umgestaltungen“ führen, wozu sicherlich die Überführung der großen Banken und Versicherungskonzerne, der Energiekonzerne und anderer wirtschaftsbeherrschender Monopolgruppen in demokratisch kontrolliertes öffentliches Gemeineigentum gehört. Politisch könnte dies in der Herausbildung fester antimonopolistisch-demokratischer Mehrheiten auch in den Parlamenten einschließlich dem Bundestag und in der Folge auch in der Bildung einer entsprechenden Regierung seinen Ausdruck finden.

Die dritte daran anschließende strategische Etappe wäre dann der Übergang zu einem Prozess weiterer revolutionärer Veränderungen, der den tatsächlichen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mit der durchgängigen Einführung des gesellschaftlichen Eigentums an den wichtigen Produktionsmitteln zum Ergebnis hat.

Es ist klar, dass es sich hier nur um eine denkbare Möglichkeit handelt. Ob sie Wirklichkeit werden kann und wie das im Einzelnen ablaufen würde, ist heute nicht vorherzusagen. Man muss sich auch davor hüten, die Einteilung in die drei genannten Etappen allzu schematisch und absolut aufzufassen. Es wird zwischen den einzelnen Etappen keine starren Schranken geben. Sie werden in der einen oder anderen Weise ineinander übergehen.

Natürlich ist auf diesem Weg mit dem erbitterten Widerstand der heute herrschenden Kreise zu rechnen. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass diese, wenn sie ihre Macht und Privilegien bedroht sehen, vor keinem Mittel zurückschrecken, auch nicht vor Verfassungsbruch, Putschversuchen gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen und der Anwendung bewaffneter Gewalt. Die jüngsten Vorgänge in Lateinamerika liefern dafür gerade wieder einen aktuellen Anschauungsunterricht. Deshalb kann der in unserem Parteiprogramm skizzierte Weg zum Sozialismus über Zwischenetappen nur erfolgreich sein, wenn, wie es im Parteiprogramm heißt, ein solches Übergewicht der zum Sozialismus strebenden Kräfte erreicht wird, „dass die Reaktion daran gehindert werden kann, Gewalt anzuwenden“. Das heißt, entscheidend wäre die Bereitschaft der Mehrheit der Menschen, sich in großen außerparlamentarischen Massenbewegungen einschließlich umfassender Streikaktionen gegen alle konterrevolutionären Aktivitäten der Reaktion zur Wehr zu setzen und diese zum Scheitern zu bringen.

Der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus wird dabei nicht als ein einmaliger, plötzlicher oder kurzfristiger revolutionärer Umsturz verstanden, sondern als ein revolutionärer Prozesses, der über Zwischenetappen letztlich zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaftsordnung führt.

Dieses im Parteiprogramm entwickelte Konzept hat den Vorzug des Realismus. Es geht von der heute konkret gegebenen Situation aus und knüpft an die heute von der Mehrheit der Bevölkerung selbst für wünschenswert gehaltenen sozialen und demokratischen Forderungen und Veränderungen, an die zur Zeit real vor sich gehenden Bewegungen und Klassenkämpfe an.

Das ist meiner Ansicht nach die konkrete Anwendung des „dialektischen Verhältnisses von Reform und Revolution“ auf die heutige Situation, von dem derzeit in Reden und Artikeln manchmal gesprochen wird, aber meist nur in abstrakter Form als nicht weiter konkretisierte Formel.

Andere Herangehensweise im Leitantrag

In dem auf dem 21. Parteitag von der Mehrheit der Delegierten gebilligten Leitantrag gibt es zu den Fragen der Strategie aber eine völlig andere Herangehensweise.

Da wird nicht von der aktuellen Lage in der BRD ausgegangen, sondern werden zunächst ziemlich abstrakte Überlegungen über die weltweite „allgemeine Krise des Kapitalismus“ an den Anfang gestellt. Daraus wird die These abgeleitet, dass die Menschheit heute generell vor der Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ steht.

Das ist so allgemein gesagt natürlich nicht falsch. Aber wie erreichen wir, dass nicht die Barbarei, sondern der Sozialismus siegt?

Der Leitantrag beschränkt sich hierzu in Wesentlichen auf die Aussage, dass „unsere aktuellen Kämpfe in eine Strategie des revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus eingeordnet werden müssen“. Was das konkret bedeuten soll, wird allerdings nicht genau erklärt.

Es heißt da zwar auch, dass die „Suche nach Übergängen zum Sozialismus unverzichtbar“ sei. Aber um welche Übergänge es sich handeln könnte, wird nicht ausgeführt. Das im Parteiprogramm anvisierte erste strategische Etappenziel einer „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ kommt im gesamten Text des Leitantrags nicht mehr vor.

Das ist aber offenbar kein Zufall und auch keine Auslassung aus Versehen. Es entspringt wohl vielmehr einer Vorstellung von der „Einordnung der aktuellen Kämpfe in eine Strategie des revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus“, in der strategischen Zwischenetappen nicht mehr vorgesehen werden.

Es gibt an verschiedenen Stellen des Leitantrags dann auch eine ganze Reihe von richtigen Aussagen. Zum Beispiel, dass es unsere Aufgabe sei, „jedes fortschrittliche Interesse aufzugreifen und gemeinsam mit den Menschen in Aktion zu kommen“. Vom „Kampf um das Teewasser“ ist die Rede. Auch der Kampf um Reformen für die Gegenwartsinteressen der arbeitenden Menschen wird erwähnt und von der Entwicklung „antimonopolitischer Bündnisse“ wird gesprochen. Aber es fehlt eine genauere Erklärung, wie wir vom „Kampf ums Teewasser“ zum Sozialismus kommen wollen. Die Vorstellung von Zwischenetappen auf diesem Weg ist aufgegeben.

Damit schließt sich der Leitantrag offenbar der Haltung der griechischen KKE in Strategie-Fragen an. Diese verficht bei den jährlichen Internationalen Treffen der Kommunistischen Parteien und auch in ihren Publikationen seit längerem die Ansicht, dass es zumindest in den entwickelten kapitalistischen Staaten nur noch Revolutionen mit unmittelbar sozialistischem Charakter geben könne. Die Vorstellung eines Weges zum Sozialismus über Zwischenetappen wird von der KKE als opportunistische Abweichung von den Grundsätzen der marxistischen Theorie gebrandmarkt. Dies wird allerdings von den meisten übrigen kommunistischen Parteien nicht geteilt.

Folgen für die Praxis

Leider handelt es sich bei diesen Fragen aber nicht um einen abstrakten Strategie-Streit oder um theoretische Flohknackerei. Die Haltung in der Strategie-Frage hat konkrete praktische Folgen bei der Bestimmung der aktuellen Hauptaufgabe der Partei.

Aus der strategischen Orientierung unseres Parteiprogramms ergibt sich logischerweise, dass die heutige Hauptaufgabe der DKP nur darin bestehen kann, mit allen – leider derzeit nur relativ bescheidenen – Kräften zur Entwicklung von Widerstand gegen Sozial- und Demokratieabbau, gegen Kriegspolitik und Rechtsentwicklung, zur Stärkung und Verbreiterung von Bewegungen für soziale und demokratische Reformen beizutragen. Das ist die derzeitige zentrale Aufgabe der Partei.

Im Leitantrag wird die zentrale Aufgabe der Partei aber ganz anders bestimmt. Da heißt es unter der Zwischenüberschrift „Rolle und Aufgaben der DKP“ wörtlich, „zentrale Aufgabe“ der Partei sei es, „revolutionäres Klassenbewusstsein zu entwickeln, in der Klasse zu verankern und mehrheitsfähig zu machen“. Ein paar Zeilen weiter wird hinzugefügt, dies sei „untrennbar mit der Aufgabe verbunden, reformistische Illusionen über den Kapitalismus… zurückzudrängen und zu überwinden“.

Damit wird die Partei in erster Linie auf propagandistische Tätigkeit fixiert. Ihr wird die Rolle einer „Lehrmeisterin“ gegenüber der restlichen Arbeiterklasse und den Massen der Bevölkerung zugeschrieben. Ihre Mitglieder sollen in Gewerkschaften und Bewegungen zwar dabei sein, aber vorrangig eben, um um ihnen etwas beizubringen, nämlich „revolutionäres Klassenbewusstsein“.

Es macht aber einen Unterschied, ob wir in Gewerkschaften und Bewegungen mitwirken, weil wir sie mit ihren derzeitigen, von ihnen selbst entwickelten Inhalten und Forderungen unterstützen wollen und dabei auch mit Menschen mit „reformistischen Illusionen“ partnerschaftlich zusammenarbeiten - oder ob wir unsere vorrangige Aufgabe darin sehen, den Beteiligten in erster Linie revolutionären Erkenntnisse zu vermitteln und sie von „reformistischen Illusionen“ zu befreien.

Damit wird natürlich nicht gesagt, dass wir generell auf die Vermittlung von Klassenbewusstsein und revolutionären Einsichten verzichten sollen. Aber es geht darum, was im Vordergrund steht, was unsere aktuelle Hauptaufgabe ist.

In Deutschland stehen wir angesichts der Kräfteverhältnisse in der absehbar nächsten Zeit vor einer vermutlich noch relativ lang auernden Periode, in der es um die Abwehr von reaktionären Rückschritten und um die tatsächliche Durchsetzung von progressiven Reformen geht, ohne dass damit bereits die Schranken des kapitalistischen Systems angetastet oder gar erschüttert werden. Dies anzuerkennen und sich darauf einzustellen, hat nichts mit „Reformismus“ zu tun. Wohl aber mit der Einsicht, dass revolutionäre Umbruchprozesse in der Gesellschaft nicht künstlich durch Agitation und Propaganda beschleunigt werden können.

Zu den aktuell auf der Tagesordnung stehenden Kampffragen gehört u. a. der gewerkschaftliche Kampf um Lohnerhöhungen und gute Tarifverträge, um die Anhebung des Mindestlohns, um die Einschränkung von Leiharbeit und prekären Niedriglohnjobs, um die Wiederabsenkung des Renteneintrittsalters, um Vereinbarungen zur Sicherung von Arbeitsplätzen, um größeren Kündigungsschutz u. ä. Aber genau zu diesen aktuellen Kampffragen wird im Leitantrag nur sehr wenig gesagt. Der Unterabschnitt „Sozialpolitik“ im Leitantrag ist im Vergleich zur Menge des übrigen Textes deutlich unterbelichtet.

Dabei hat die Entwicklung solcher sozialer Kämpfe gerade deshalb Bedeutung, weil mit ihnen die Sammlung und Zusammenführung von Kräften gefördert wird, Menschen in Aktion kommen und dabei auch neue Erfahrungen und Erkenntnisse gewinnen. Das heißt, das könnte ein realer Weg sein, um das Massen- und Klassenbewusstsein anhand eigener Erfahrungen tatsächlich zu verändern.

Dass propagandistische Arbeit allein dazu nicht ausreicht, war übrigens auch Lenins Ansicht. Im „linken Radikalismus“, betonte er u. a., dass Kommunisten die Fähigkeit haben müssen, „sich mit den breitesten Massen der Werktätigen zu verbinden und sich ihnen anzunähern (!), wenn man so will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen (!)“. An anderer Stelle schrieb er: „Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, ist Propaganda allein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen.“ (Ausgewählte Werke in 6 Bänden, Band V, S. 471 u. S. 547/8).

Meine Befürchtung ist, dass mit dem selbsterteilen „Lehrauftrag“ zur Propagierung von Klassenbewusstsein als zentraler Aufgabenstellung der Partei die Gefahr verbunden ist, dass wir uns selbst nur noch als „wissende Elite“ begreifen und dass dies in der Praxis dazu führt, dass wir von Menschen anderer Weltanschauung nur noch als die „ewigen Besserwisser“ wahrgenommen werden, die sie belehren wollen.

Abgehen von einer bewährten Traditionslinie

Das Abgehen vom strategischen Konzept des Parteiprogramms von 2006 im Leitantrag ist nicht nur ein Bruch mit dem geltenden Parteiprogramm, Es ist auch ein Bruch mit einer viel älteren kommunistischen Traditionslinie.

Die strategischen Konzepte der DKP-Programme von 1978 und 2006 beruhten im Wesentlichen auf den Orientierungen, die in der internationalen kommunistischen Bewegung mit dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 im Kampf gegen den Faschismus erarbeitet worden sind.

Der VII. Weltkongress war u. a. auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit „linken“ Fehlern der Kommunisten. In seinem Ergebnis wurde eine wichtige strategische Neuorientierung im Kampf gegen den Faschismus und auch eine Neubestimmung des Verhältnisses der Kommunisten zur bürgerlichen Demokratie vorgenommen.

Die daraus entstandene „Volksfront“-Orientierung war auch eine Schlussfolgerung daraus, dass die Kommunisten in Deutschland - abgesehen von der zeitweilig vertretenen falschen und sehr schädlichen „Sozialfaschismus-These“ - den Kampf gegen den Faschismus in der Weimarer Republik viel zu lange und praktisch bis zum Ende im Januar 1933 mit dem strategischen Ziel der Errichtung der „Sowjetmacht“ oder der „Arbeitermacht“ in Deutschland verbunden hatten. Die Verteidigung der bürgerlichen Weimarer Demokratie gegen den Angriff des Faschismus war damals nicht als ein eigenständiges strategisches Ziel erkannt worden.

Die Volksfront-Orientierung mit ihrem Konzept von breiten Bündnissen aller antifaschistisch-demokratischen Kräfte, das übrigens schon vor dem VII. Weltkongress in Spanien und Frankreich in der Praxis erprobt worden war, hat sich als ein außerordentlich erfolgreiches strategisches Konzept erwiesen. Es führte nicht nur nach 1945 mit den „volksdemokratischen Revolutionen“ in Ost- und Südosteuropas zu bedeutenden Erfolgen, sondern auch schon vor 1945 im antifaschistischen Befreiungskampf in Ost- wie in Westeuropa.

In abgewandelter Form entsprach die „Volksfront“-Orientierung auch dem kommunistischen Strategiekonzept von „nationalen Befreiungsrevolutionen“, die beispielsweise in Vietnam und China erfolgreich verwirklicht wurden. Auch die kubanische Revolution war nicht von Anfang an eine sozialistische Revolution. Ebenso entsprach die Nelkenrevolution in Portugal einem strategischen Bündniskonzept der Portugiesischen KP zum Sturz des Faschismus und zur Schaffung demokratischer Verhältnisse unter Einbeziehung großer Teile des Bürgertums und des Militärs.

In Deutschland hatte die Volksfront-Orientierung zur Folge, dass die KPD nach dem Sieg über den Faschismus in ihrem ersten Aufruf vom 11. Juni 1945 nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eben nicht zur Einführung des Sozialismus in Deutschland aufrief, sondern sich für den „demokratischen Neuaufbau Deutschlands“ und die Errichtung eines antifaschistisch-demokratischen Staates im Zusammenwirken mit den Sozialdemokraten und mit christlichen und liberalen bürgerlichen Politikern entschied.

Aber auch nach der Spaltung Deutschlands und der Gründung der BRD verfolgte die KPD in den Westzonen ein von der „Volksfront“-Orientierung inspiriertes Konzept. Deutliches Beispiel dafür ist der im Februar 1968 veröffentlichten Programmentwurf der illegalen KPD, der von Grete Thiele, Max Schäfer und Herbert Mies auf einer Pressekonferenz in Frankfurt/M. vorgelegt wurde und den die Bundesregierung beschlagnahmen ließ. Darin formulierte die KPD ihr nächstes politisches Ziel so¨: „Umgestaltung der Bundesrepublik zu einem Staat der fortschrittlichen Demokratie und des Friedens“ unter „Verteidigung und Erweiterung der im Grundgesetz und in den Länderverfassungen verkündeten demokratischen Rechte“. Die KPD betonte darin, dass sie „mit allen Demokraten, auch mit Nichtsozialisten und denen, die heute noch Gegner des Sozialismus sind“, zusammenarbeiten will, um gemeinsam zu verhindern, dass Notstandsdiktatur und Neonazismus triumphieren und dass vom Boden der Bundesrepublik ein neuer Krieg ausgeht. „Nur eine breite demokratische Front aus allen Schichten unseres Volkes“ könne der politischen und sozialen Reaktion Einhalt gebieten und ihr „eine demokratische Alternative entgegenstellen“.

Mit diesem sicher nur sehr unvollständigen historischen Rückblick wollte ich nur verdeutlichen, dass die strategische Orientierung der DKP bei ihrer Neukonstituierung 1968 nicht im luftleeren Raum entstanden war, sondern in einer bewährten kommunistischen Traditionslinie stand.

Was aber kann heute das Abgehen von dieser durch historische Erfahrungen bestätigten Orientierung rechtfertigen?

Die Praxis als Gegenargument?

Ich will nicht übergehen, dass es zum Konzept des Übergangs zum Sozialismus über strategischen Zwischenetappen auch Gegenargumente gibt. Eines wird von der KKE mit der Behauptung formuliert, dass die Vorstellung von Stufen oder Etappen auf dem Weg zum Sozialismus bisher nirgendwo in der Praxis zum Erfolg geführt habe und damit bestätigt worden sei.

Das stimmt so natürlich nicht. Denn die erwähnten volksdemokratischen und nationaldemokratischen Revolutionen nach 1945 waren ja zumindest zeitweise erfolgreich. Allerdings stimmt, dass alle diese Revolutionskonzepte mit einem Weg zum Sozialismus über Zwischenetappen unter anderen internationalen Bedingungen als heute verwirklich worden sind. Die Existenz der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten sozialistischen Staaten spielte dabei eine große Rolle. Dieser Faktor im internationalen Kräfteverhältnis ist so heute nicht mehr vorhanden. Aber folgt  daraus sozusagen „von selbst“, dass das Konzept von strategischen Zwischenetappen nun aufgegeben werden muss, weil es den sozialistischen Staatenblock nicht mehr gibt? Ich halte dies für einen unbegründeten Kurzschluss.

Welcher Weg zum Sozialismus eingeschlagen werden kann und muss, hängt eben nicht allein von der objektiven Reife der materiellen Bedingungen ab. Ein strategisches Konzept, das den Entwicklungsstand des „subjektiven Faktors“, also des Massenbewusstseins, und die Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung nicht in die Überlegungen einbezieht, kann für die Festlegung von Weg und Aufgaben kommunistischer Politik nicht ausreichend sein. Gebraucht wird ein strategisches Konzept, das geeignet ist, die Mehrheit der Bevölkerung anhand der ihr aktuell am meisten auf den Nägeln brennenden Fragen in Bewegung zu bringen und von da aus weitergehende Veränderungen zu erreichen, die schließlich zur Öffnung des Weges zum Sozialismus führen. Dazu ist das Konzept von strategischen Übergangsetappen nach allen bisherigen praktischen Erfahrungen noch immer am besten geeignet.

Richtig ist allerdings, dass, seitdem es den sozialistischen Staatenblock nicht mehr gibt, die Strategie der Etappenziele zum Sozialismus nirgendwo in der Praxis bestätigt worden ist. Aber wenn das ein Argument gegen die Etappen-Strategie sein soll, stellt sich auch die Gegenfrage: Ist denn die von der KKE verfochtene strategische Linie des Aufrufs zur direkten sozialistischen Revolution ohne Zwischenetappen irgendwo in der Welt in der Praxis bestätigt worden? Es gibt dafür kein Beispiel.

Wie damit umgehen?

Wie schon erwähnt, verbindet sich das Abgehen des Leitantrags von der im Parteiprogramm festgelegten Strategie mit einer Reihe weiterer Elemente, die zusammengenommen den Eindruck einer „Linkswende“ im Kurs der DKP bestätigen („Marxismus-Leninismus“, Position in Sachen EU, flächendeckende Kandidatur bei Wahlen u.a.m).

Es ist allerdings zugleich zu befürchten, dass die damit verbundenen Meinungsverschiedenheiten nicht kurzfristig zu überwinden sein werden. Möglicherweise werden sie noch eine ganze Weile fortbestehen.

Wie also damit umgehen?

Um es klar zu sagen: Appelle zur Disziplin und Unterordnung werden da nicht weiterhelfen. Es geht um existenzielle Fragen der Partei. Da können durchdachte Überzeugungen und daraus erwachsende kritische Einwände gegenüber dem derzeitigen Kurs der Parteiführung nicht einfach für einige Zeit in eine Schublade abgelegt und ins Schweigen verdrängt werden. Auch fortgesetzte Ausgrenzungsversuche und diffamierende Etikettierungen werden nicht weiterhelfen.

Noch schlimmer wäre allerdings der Versuch, die unterschiedlichen Meinungen durch administrative Maßnahmen wie Parteiordnungsverfahren und Ausschlüsse zu „regeln“, wofür wohl von einigen „Vorkämpfern“ derzeit Stimmung zu machen versucht wird. Das Ergebnis könnte für die DKP nur katastrophal sein. Es wäre die endgültige Zellspaltung der DKP und ihre Umwandlung in eine Mini-Sekte nach altem K Gruppen-Muster. Man kann nur hoffen, dass sich niemand wirklich dessen schuldig machen will.

Meiner Ansicht nach gibt es nur einen Weg zur Bewältigung des Problems: Alle müssen weiterhin ihre jeweiligen Aktivitäten vor Ort und in den realen Zusammenhängen, in denen sie heute tätig sind, fortsetzen, in Gewerkschaften und Bewegungen arbeiten und den Kampf um reale soziale und demokratische Verbesserungen und Reformen entwickeln helfen. Dafür gibt es ja auch im Leitantrag eine ganze Reihe richtiger aktueller Forderungen. Und gleichzeitig muss weiter über die unterschiedlichen Meinungen offen gesprochen und diskutiert werden. In einer möglichst sachlichen Debatte ohne verfälschende Etikettierungen. Das braucht Geduld und Weitsicht. Aber darin liegt meiner Ansicht nach die einzige Chance für die DKP, zu neuem Ansehen und zu neuer Kraft zu kommen. Alles andere führt in die totale Bedeutungslosigkeit.

Georg Polikeit, 24.05.2016