Parlamentswahl in Frankreich: Besorgniserregende Ergebnisse

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Wahl-Stimmabgabe13.06.2017: Nur vier Abgeordnete im 1. Wahlgang gewählt ++ Wahlbeteiligung auf Rekordtief ++ "Macronisten" liegen vorne ++ Sozialisten atomisiert ++ Mélenchons Kalkül ist nicht aufgegangen ++ Dank Mehrheitswahlrecht droht im 2. Wahlgang der Durchmarsch der "Macronisten" – aber Überraschungen möglich ++ Frankreich vor großen soziale Auseinandersetzungen ++ Dokumentiert: Erklärung der PCF [1]


Ganze vier Abgeordnete sind am letzten Sonntag (11. Juni) bei der französischen Parlamentswahl definitiv gewählt worden. Sie haben nach den Regeln des französischen Mehrheitswahlrechts schon im ersten Wahlgang in ihren jeweiligen Wahlkreisen mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen und damit ihr Mandat gesichert. In den übrigen 573 Wahlkreisen entscheidet der zweite Wahlgang am kommenden Sonntag über die endgültige Zusammensetzung der nächsten französischen Nationalversammlung.

Dennoch löst das Ergebnis dieser Parlamentswahl bereits jetzt bei vielen Französinnen und Franzosen große Besorgnis aus. Und zwar in zweifacher Hinsicht.

Wahlergebnisse des 1. Wahlgangs, 11. Juni 2017
(nach Angaben des französischen Innenministeriums)

Partei/Bewegung Stimmen Prozent
La République en marche – LRM (Macron) 6 390 797  28,20
Les Républicains (Rechtskonservative) 3 573 366 15,70
Front National u. a. Rechtsextreme 2 990 592  13,20
La France insoumise – LFI (Mélenchon) 2 497 661  11,02
Parti Socialiste – PS 1 685 773  7,44
Ökologiebewegung/Grüne/'EELV 973 799  4,30
Modem (Liberale – Wahlbündnis mit Macron 932 228  4,11
UDI (Ex-Zentrum, Wahlbündnis mit Rechtskonservativen) 687 213  3,03
Parti Communiste Français (PCF) 615 503  2,72

 

Historischer Tiefststand bei der Wahlbeteiligung

Zum einen weist die Wahlbeteiligung bei dieser Wahl einen neuen historischen Tiefststand aus. Weniger als die Hälfte der 47,5 Millionen Wahlberechtigten sind zur Wahl gegangen. Die Zahl der Nichtwähler wuchs auf 51,3 %. Das hat es seit der Gründung der V. Republik im Jahr 1958 noch nie gegeben.

Und dabei handelt es sich bei dieser Zahl noch um einen landesweiten Durchschnitt. In manchen Regionen, die besonders von wirtschaftlichem Niedergang, Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind, wie beispielsweise im Departement Seine-Saint-Denis (Großraum Paris), lag die Zahl der Nichtwähler noch viel höher. Hier sind nur rd. 25 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen.

Das lässt sich nicht mehr allein mit dem schönen Sommerwetter erklären. Millionen Wählerinnen und Wähler hielten es offenbar nach der Präsidentenwahl am 14. Mai, die den Wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron an die Staatsspitze brachte, nicht mehr für nötig, vier Wochen später schon wieder wählen zu gehen.  Reine Wahlmüdigkeit hat sich dabei wohl mit der Annahme verknüpft, dass die Dinge mit der Präsidentenwahl und Macrons Installierung sowieso schon gelaufen seien.  Auch allgemeiner Missmut über die damit entstandene Lage und eine gewisse Desorientiertheit mancher Wähler angesichts des Scheiterns der zwei großen Parteien, der "Republikaner" und der "Sozialisten", die bisher die politische Landschaft dominiert haben, dürften eine Rolle gespielt haben.
Beobachter bewerten dies als Zeichen für die anhaltende "Krise der Politik". Das etablierte Parteiensystem hat seine Bindekraft für Millionen Menschen verloren. Die französischen Kommunisten sprechen von einer besorgniserregenden "Krise der Demokratie", die darin zum Ausdruck kommt.

Drohende absolute Mehrheit für Macron durch verfälschende Wirkung des Mehrheitswahlrechts?

Das zweite Element großer Besorgnis, die mit diesem Wahlergebnis verbunden ist, sind die sich daraus ergebenden Aussichten für die künftige Zusammensetzung der französischen Nationalversammlung.

Verschiedene Umfrageinstitute (rechte Grafik von france-tv) haben aufgrund der prozentualen Ergebnisse im ersten Wahlgang Berechnungen über die künftige Sitzverteilung in der Nationalversammlung angestellt. Demnach würde die erst zur Präsidentenwahl neu gegründete Formation "La République en marche!" des neuen Staatschefs Macron, etwa 415 – 455 Mandate gewinnen, obwohl sie landesweit nur 28,2 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Das wäre weit mehr FR Prognose-2Wahlgang2017als die absolute Mehrheit. Das zeigt die verfälschende Wirkung des geltenden Mehrheitswahlrechts. Denn 28 %, das wären bei 577 Abgeordneten nur etwa 160 Mandate, wenn die Sitzverteilung nach dem Verhältniswahlrecht geregelt wäre. Das Mehrheitswahlrecht ermöglicht bei gleichem Stimmenanteil im Land fast das Dreifache.

Nach den Berechnungen der Institute würden  nach den "Macronisten" die Abgeordneten der rechtskonservativen "Republikaner" mit ihren Verbündeten mit 70 – 100 Mandaten die zweitstärkste Fraktion im französischen Parlament, bei landesweit 15,8 % Stimmen.

An dritter Stelle im Parlament stünden nach diesen Berechnungen die "Sozialisten" mit ihren Verbündeten und den Grünen mit voraussichtlich 20 – 30 Abgeordneten, die im Landesmaßstab zusammen etwa 12 % der Stimmen holten.

Vierstärkste Gruppe im Parlament wären die Abgeordneten von "France Insoumise" unter Führung des Linkssozialisten Mélenchon plus den Kommunisten (POCF), die zusammen etwa 14 % der Stimmen erhielten, aber nur auf 8 - 18 Mandate kommen sollen.

Den Rechtsextremisten mit dem "Front National", die landesweit auf 13,2 % der Stimmen kamen, werden 3 – 10 Mandate zugeschrieben.

Überraschungen im 2. Wahlgang möglich

Sicher können diese Berechnungen der mutmaßlichen Sitzverteilung im Parlament keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit erheben. Denn der zweite Wahlgang am kommenden Sonntag (18. Juni) wird durch zahlreiche wahltaktische Manöver gekennzeichnet. In der zweiten Wahlrunde sind nur noch die Kandidatinnen und Kandidaten zugelassen, die im ersten Wahlgang mehr als 12,5 % der Wahlberechtigten im jeweiligen Wahlkreis hinter sich gebracht haben. Alle, die darunter blieben, können nicht mehr antreten. Viele der Ausgeschiedenen rufen ihre Anhänger aber nun für den zweiten Wahlgang zu einer taktischen Stimmabgabe für ihnen nahekommende andere politische Formationen auf. Manche KandidatInnen, die am zweiten Wahlgang teilnehmen könnten, entscheiden sich ebenfalls aus taktischen Gründen, ihre Kandidatur nicht aufrecht zu erhalten und zur Wahl anderer KandidatInnen aufzurufen. Die tatsächliche Sitzverteilung in der nächsten Nationalversammlung steht also genau erst fest, wenn der zweite Wahlgang gelaufen ist.

Dennoch ist damit zu rechnen, dass die "Hochrechnungen" der Institute nicht völlig daneben liegen und in etwa die künftigen Stärkeverhältnisse im Parlament anzeigen. Das heißt, es droht ein "Durchmarsch" der Macron-Getreuen, die faktisch das nächste Parlament absolut beherrschen könnten, zumal sie in vielen Fragen der Durchsetzung ihrer neoliberalen "Reformen" auch mit der Unterstützung der rechtskonservativen "Republikaner" und des bürgerlichen "Zentrums" rechnen können. Die Opposition im Parlament wäre entsprechend stark eingeschränkt und geschwächt.

Mélenchons Kalkül ist nicht aufgegangen

Es bleibt festzustellen, dass eine gründliche selbstkritische Betrachtung der Ergebnisse der alternativen Linkskräfte noch aussteht. Mit 11,02 % hat der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon mehr als 8 Prozentpunkte weniger als bei der Präsidentenwahl vor vier Wochen eingefahren. wo er auf knapp 20 % gekommen war. Das bleibt erheblich hinter seiner Ankündigung zurück, dass es ihm gelingen könne, mit seiner Formation "La France Insoumise" ("Das widerständige Frankreich") die Mehrheit der Sitze im Parlament zu erobern und dann eine linke Regierung zu bilden, die den neoliberalen Präsidenten Macron zu einer "Cohabitation" (Zusammenamtieren eines rechten Präsidenten mit einer linken Regierung) zwingen würde.

Dass die alternativen Linkskräfte sich bei dieser Wahl also nicht zu einem attraktiven gemeinsamen Wahlbündnis zusammengefunden haben, wie es die französischen Kommunisten propagiert hatten, sondern "getrennt marschiert" sind, hat sich offenkundig nicht ausgezahlt.

Aussichten auf Neuformierung der Linken und große soziale Auseinandersetzungen?

Ungeachtet dieser ungelösten Probleme der Linken ist allerdings nicht zu unterschätzen, dass das Abschneiden der Mélenchon-Formation und der französischen Kommunisten (PCF) mit zusammen etwa 14 Prozent der Stimmen und vielleicht mehr als 15 Parlamentssitzen, wie sie  zur Bildung einer Parlamentsfraktion nötig sind, auch in der nun entstandenen Situation eine wichtige positive Rolle spielen kann. Gemeinsam könnten diese 14  Prozent ein Sockel für die Neuformierung eines breiten Linksbündnisses sein, das in der Frontstellung gegen den neoliberalen Kurs von Staatschef Macron und Getreuen auch neue Stärke gewinnen könnte.

Nicht ohne Grund wird auch in bürgerlichen Betrachtungen zum Wahlergebnis bereits die Frage aufgeworfen, wie lange die große parlamentarische Mehrheit für Macron möglicherweise zusammenhalten wird, wenn sich in den Gewerkschaften und außerparlamentarischen sozialen Bewegungen starke Widerstände gegen seine antisozialen und antidemokratischen Regierungsvorhaben entwickeln. Die Formation von Staatschef Macron ist ja keine historisch gewachsene Gemeinschaft mit fest verankerten gemeinsamen programmatischen Grundsätzen. Es handelt sich eher um eine Schar von aus der aktuellen Situation und zum Teil auch aus reinen Opportunitätsgründen zusammengewürfelten Unterstützer, die vorher ganz verschiedenen politischen Lagern verbunden waren.

Nicht ohne Grund streben Macron und sein Mitarbeiterstab derzeit danach, ihre wirtschafts- und sozialpolitischen "Reformvorhaben", insbesondere die beabsichtigten weiteren Eingriffe in das Arbeitsrecht, in ausführlichen "Konsultationen" mit den "Sozialpartnern" zu besprechen, ehe sie ins Parlament eingebracht werden. Insgesamt sind bis zum 21 Juli nicht weniger als 48 Gesprächsrunden zwischen Vertretern des Arbeitsministeriums  und der Gewerkschaften bzw. Unternehmerverbänden eingeplant. Der Staatspräsident möchte dabei herausfinden, wo ihm am ehesten ein Einbruch in die vorwiegend kritische und ablehnende Haltung der Gewerkschaften zu seinen "Reformplänen" gelingen könnte.

Vor einem Jahr hatten die "Arbeitsrechtsreformen", die die damalige Arbeitsministerin El Khomri in der Regierung des sozialdemokratischen Staatspräsidenten Hollande durchsetzte, bekanntlich zu gro0en außerparlamentarischen Demonstrationen von Hunderttausenden, Streiks und wirkungsvollen Blockadeaktionen geführt. Aber Macron und seine Gehilfen wollen jetzt in der "Flexibilisierung" des Arbeitsrechts noch weiter gehen als das unter Hollande verabschiedete "Arbeitsgesetz ("Loi travail"). Ob es dem neu installierten Staatschef mit seiner Parlamentsfraktion gelingen kann, eine Wiederholung der zugespitzten Konfliktsituation mit den Gewerkschaften und großen Teilen der Bevölkerung zu vermeiden und dennoch die geplanten "Reformen" im Unternehmerinteresse durchzusetzen, ist die spannende Frage, die erst in den kommenden Monaten eine Antwort finden wird.

txt: Georg Polikeit

 

Erklärung der PCF zum Ausgang des ersten Wahlgangs der Parlamentswahl in Frankreich

Dle Französsiche Kommunistische Partei dankt den 524 KandidatInnen, die sie im kontinentalen Frankreich (ohne Überseegebiete, Übers.) unterstützt oder selbst präsentiert hat. Sie dankt herzlich der Gesamtheit der Aktivistinnen und Aktivisten, die einen beispiellosen und kämpferischen Wahlkampf geführt haben. Dank auch den hunderttausenden Wählerinnen und Wählern, die ihr Vertrauen geschenkt haben.

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs der Parlamentswahlen, die wir bis zur Abfassung dieses Texts erhalten haben, bestätigen, was wir um 29 Uhr nach den ersten Schätzungen gesagt haben.

Die Fraktur in Sachen Demokratie ist der erste Anlaß zu Beuunruhigung, Der Nichtwähleranteil, der ein historisches Niveau von rd. 50 Prozent erreicht, hat sich seit 2002, dem Datum der Umkehrung des Terminkalenders, mit dem die Parlamentswahl hinter die Präsidentenwahl plaziert und so die Inhalte dieser Wahl und die Rolle des Parlaments zugunsten allein der Präsidentenwahl herabgesetzt wurden, nur ständig vergrößert.

Es ist dringend, die Institutionen unseres Landes zu überprüfen und der Parlamentswahl ihren vollen Platz in der demokratischen Debatte zurückzugeben und das Verhältniswahlrecht auf allen Ebenen einzuführen.

Die Ergebnisse bestätigen das Risiko, daß die Partei von Emmanuel Macron über eine erdrückende Mehrheit in der Nationalversammlung ohne Bezug zu ihrem realen Einfluß im Land verfügt. Sie hätte damit die Hände frei, um ihre liberale Politik zu verwirklichen.

Es ist notwendig und dringend, sich zum zweiten Wahlgang zu mobilisieren, um den Kandidaten des Front National den Weg in die Nationalversammlung zu versperren; seine Ideen des Hasses, des Rassismus und der Ausgrenzung dürfen nicht ins Parlament kommen.

Es ist notwendig und dringend, sich zu mobilisieren, um den Kandidaten von En Marche! (Macron-Partei, Übers.), oder denen, die die Präsidentenmehrheit stützen, denen der "Repbulikaner", die alle sozialen Rückschritte unterstützen werden, einen Riegel vorzuschieben.

Die KandidatInnen, die von der Französischen Kommunistischen Partei unterstützt werden, werden im zweiten Wahlgang der Parlamentswahl präsent sein im Departement Allier mit Jean-Paul Dufregne, im Departement Bouches-du-Rhône (Rhone-Mündung) mit Pierre Dharréville, im Departement Chèr mit Nicolas Sansu, im Departement Nord mit Alain Bruneel und Fabien Roussel, im Departement Puy-de-Dôme mit André Chassaigne, im Departement Seine-Maritime mit Hubert Wulfranc, Sébatien Jumel und Jean-Paul Lecoq, im Departement Somme mit François Ruffin, im Departement Haut-Vienne mit Pierre Allard, im Departement Hauts-de-Seine (Seine-Höhen) nut Elsa Faucillon, Yasmine Boudienah, im Departement Seine-Saint-Denis mit Stéphane Pau, Marie-George Buffet und Clémentine Autain.

Wir rufen auf zur Sammlung und breitesten Mobilisierung, damit diese Kandidaten gewählt werden, die sich mit Nachdruck und Entschlossenheit der antisozialen Politik von Emmanuel Macron entgegenstellen werden, die an allen sozialen und politischen Mobilisierungen teilnehmen werden, um eine Hoffnung und eine Perspektive der Linken in Frankreich wiederaufzubauen.

Sie können auf diese Frauen und Männer zählen, um Ihre Erwartungen und Ihre Kämpfe in der Nationalversammlung zu Gehör zu bringen.

Paris, 11. Juni 2017

 

Frankreich

Französische Kommunisten starteten EU-Wahlkampf

12.02.2019: Mit einer großen Kundgebung im Dock des Suds im alten Hafengelände von Marseille starteten die französischen Kommunisten am Abend des 5. Februar ihren EU-Wahlkampf. Ihr Spitzenkandidat Ian Brossat, 38 Jahre alt, Lehrer für Französisch und derzeit kommunistischer Vizebürgermeister der Hauptstadt Paris, zuständig für Wohnungswesen und Notunterkünfte, präsentierte die vom PCF-Nationalrat aufgestellte Kandidatenliste. Gleichzeitig betonte der Listenführer aber, dass die PCF offen bleibe ...

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