Europas 'konstituierender Prozess' - Was können Linke machen?

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alt05.02.2014: Die Europäische Union und ihre neoliberalen Institutionen scheinen nicht reformierbar. Was können Linke dann noch machen? Wenn Verfassung und Institutionen der EU die Interessen und Wünsche der Vielen nicht zum Ausdruck bringen, dann ist es Zeit, Europa neu zu begründen – gegen die EU, wie sie politisch existiert.

Ein Beitrag zur EU-Debatte in der LINKEN - Von Raul Zelik

Für jemanden, der wie ich Mitglied der LINKEN ist, sich aber keiner Strömung der Partei zurechnet, ist der bisherige Verlauf der Europa-Debatte einigermaßen irritierend. Es ist, als wollten die Beteiligten wieder einmal das alte Klischee bekräftigen, dass es im Politikbetrieb weniger um Inhalte als um parteitaktische Überlegungen und mediale Anerkennung geht.

Da ist zum einen jene Position, die einen positiveren Bezug auf die EU einfordert und sich selbst als »internationalistisch« bezeichnet. An dieser Position finde ich drei Aspekte ausgesprochen problematisch.

Erstens: Die Europa-Debatte wird hier als Vehikel verstanden, um der SPD eine Annäherung zu signalisieren oder diese zumindest nicht zu verbauen. Aus irgendeinem Grund, der mir in Anbetracht der realen Erfahrungen mit den europäischen Mitte-Links-Regierungen der letzten Jahrzehnte schleierhaft ist, soll die LINKE »fit« für eine rot-rot-grüne Koalition gemacht werden. Die Frage, ob die scharfe Kritik an der EU inhaltlich berechtigt oder sogar notwendig ist, rückt in den Hintergrund. Entscheidender ist die Furcht, ins parteipolitische Abseits geraten zu können.

Zweitens: Die Pro-EU-Position verbündet sich durchaus bewusst mit dem Medien-Mainstream, der (wie etwa in 'Spiegel online', 'Berliner Zeitung'« oder in der 'Tageszeitung') die Spaltung der LINKEN in gute, regierungskompatible Modernisierer und schlechte, ideologisch verbohrte Fundamentalisten vorantreiben will. Es ist das gleiche idiotische Spiel wie vor 30 Jahren bei den Grünen oder zuletzt bei den unterschiedlichen Links- und Mitte-Links-Regierungen Lateinamerikas. Als Realpolitiker gilt der, der sich nicht mit den Machtverhältnissen anlegt. Aus emanzipatorischer Perspektive wäre aber genau das Gegenteil richtig: Wer die Gesellschaft verändern will, muss sich mit Machtverhältnissen anlegen und den herrschenden Konsens in Frage stellen.

Drittens: Es ist unlauter, wenn suggeriert wird, die Verteidigung der EU habe etwas mit Internationalismus zu tun. Zwar ist die EU heute eine überstaatliche Struktur, aber sie verlässt doch den Rahmen eines Nationalstaatsprojektes nicht: Sie zieht klare, militärisch gesicherte Grenzen nach außen, formt eine gemeinsame europäische Staatsidentität (wobei die Einbindung der Ukraine interessanterweise forciert, die Türkei hingegen auf Abstand gehalten wird) und verortet sich in einer imperialen Konkurrenz mit anderen großen Wirtschaftsblöcken bzw. Nationen. Insofern ist die EU eben kein postnationales Friedensprojekt wie es die Völkerbund-Visionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert propagierten. In der EU, so wie sie seit den 1950er Jahren entstanden ist, geht es um die Ablösung von dem Kapital zu klein gewordenen Nationalstaaten durch einen größeren, global handlungs- und interventionsfähigen europäischen Proto-Staat. Gerade dieser neue europäische Staat hätte das Zeug, um in dem sich abzeichnenden globalen Wettlauf um knapper werdende Rohstoffe als militärischer Akteur aufzutreten. Eine starke EU ist eben keine Friedensgarantie.

Aber auch die Gruppe um Dieter Dehm und Wolfgang Gehrcke hat meiner Ansicht nach ein taktisches Verhältnis zu dem, was sie schreibt. Ihr Papier propagiert den sozialen Widerstand, der unablässig ist, wenn gesellschaftliche Machtverhältnisse verändert werden sollen. Das scheint mir zunächst einmal sehr überzeugend: Wer emanzipatorische Reformen, gesellschaftliche Verbesserungen, sozialen Fortschritt will, sollte weniger darüber nachdenken, welche Parteien die Regierung stellen, sondern wie ein gesellschaftlicher Prozess für derartige Veränderungen entstehen kann. In diesem Sinne haben die AutorInnen durchaus recht, wenn sie schreiben, dass es um mehr geht als um Stimmen bei der Europawahl, nämlich um die Einmischung der Vielen.

Eigenartigerweise koppeln sie diesen Aufruf zur Mobilisierung jedoch an eine Verteidigung des nationalstaatlichen Rahmens: "Eine Stimme für die Linke ... ist eine Stimme für unser Grundgesetz, seine Sozialstaatlichkeit und das Angriffskriegsverbot, das unser Grundgesetz verbindlich vorschreibt." Es mag ja sein, dass der politische Kompromiss von 1948/49, der im Grundgesetz formuliert wurde, emanzipatorischer war als die Verhältnisse heute und das Grundgesetz in dieser Hinsicht sozialer, antimilitaristischer und demokratischer daherkommt als die EU-Verfassung.

Aber die Linke ist noch nie gut damit gefahren, nach hinten zu verteidigen. Der positive Bezug auf liberaldemokratische Eckpfeiler im Grundgesetz, keynesianischen Wohlfahrtsstaat oder die regulierende Rolle des Staates im ordoliberalen Kapitalismus der Erhard-Jahre verstellt den Blick, worum es doch eigentlich geht: um soziale, demokratische und ökologische Alternativen zum Kapitalismus. Marx mag es mit seinem Fortschrittsoptimismus bisweilen übertrieben haben: Nicht immer eröffnet die historische Entwicklung Potenziale der Emanzipation. Aber zumindest die Ausgangsthese ist richtig: Es gilt, die emanzipatorischen Momente in historischen Prozessen aufzuspüren, und nicht, letztere einfach zu blockieren. Oder wie es bei Walter Benjamin heißt: Nicht das gute Alte, sondern das schlechte Neue sollte Ausgangspunkt linker Praxis sein.

Wir wären gut beraten, uns der sozialdemokratischen Romantik zu entziehen, wie sie auch von prominenten Politikwissenschaftlern, etwa Colin Crouch, gepflegt wird: Der Keynesianismus der Nachkriegszeit war eben kein Emanzipationsvorhaben, sondern eine autoritäre, repressive und antikommunistische Form des Appeasements. Zudem lässt sich diese Formation auch nicht einfach wieder herstellen. Das wissen natürlich auch jene Linke, die von Grundgesetz, New Deal und staatlicher Regulation im Ordoliberalismus schwärmen. Sie sagen diese Dinge, weil sie hoffen, damit anschlussfähiger zu werden: an jene Bevölkerungsteile, die die EU als transnationale Einrichtung verabscheuen, sich die D-Mark zurückwünschen oder die »soziale Marktwirtschaft« für eine Alternative zum Kapitalismus halten.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Hinweis darauf, dass das Grundgesetz demokratischer und antimilitaristischer ist als die realen Verhältnissen heute oder dass der Ordoliberalismus vernünftiger war als die neoliberale Raubökonomie der Gegenwart, ist völlig berechtigt. Aber daraus darf nicht folgern, dass die LINKE so tut, als würde sie die Politik der 1950er oder 1960er Jahre neu auflegen wollen.

Die Krise der repräsentativen Politik, die sich in den letzten drei Jahren auf so vielen Plätzen der Welt manifestiert hat, sollte Linke und LINKE dazu bewegen, auch ihre eigene Handlungslogik in Frage zu stellen. Die Entfremdung von der Politik ist eine Entfremdung gegenüber Politikformen, mit der Mehrheiten kontrolliert, instrumentalisiert, regierbar gemacht werden. Das heißt, die repräsentative Politik ist von reaktionären Mustern durchzogen, denen wir uns bewusster widersetzen sollten.

Worum geht es bei der Frage Europa? Wenn das Anliegen der LINKEN darin besteht, grundlegende soziale, demokratische und ökologische Veränderungen und damit eine Alternative zum Kapitalismus in Gang zu setzen (und wenn das nicht das Ziel ist, wüsste ich nicht, warum die LINKE als Partei existiert), muss sie den Mut aufbringen, dem herrschenden Konsens an zentralen Punkten zu widersprechen. Also: Die EU ist kein demokratisches Friedensprojekt. Sie entstand als Wirtschafts- und Handelsgemeinschaft, um den verschiedenen Kapitalen der zu klein gewordenen Nationalstaaten neuen Gestaltungsraum zu erschließen und um Westeuropa innerhalb des Kalten Kriegs sozial und ökonomisch zu stabilisieren. Das ging mit etwas gesellschaftlichem Fortschritt einher – immerhin kommt in Deutschland heute niemand mehr auf die bekloppte Idee, Franzosen als »Erbfeinde« zu bezeichnen. Trotzdem zeigt sich an den EU-Außengrenzen oder bei den westlichen Militärinterventionen recht deutlich, wie wenig diese Entwicklung mit Internationalismus und Solidarität zu tun hat.

Leider deutet auch nichts darauf hin, dass eine demokratische und soziale Reform der EU möglich wäre. Die institutionelle Struktur der Union ist so undemokratisch und neoliberal verfasst, dass jeder Reformprozess, der innerhalb der etablierten Regeln verbleibt, an den Institutionen scheitern muss. Aber was bleibt uns dann noch, wenn die EU nicht reformierbar scheint und die Verteidigung des nationalstaatlichen Kompromisses als Taktieren mit konservativen Ressentiments nicht in Frage kommt?

Die italienischen Theoretiker und Aktivisten Sandro Mezzadra und Toni Negri haben in einem Text vergangenen Monat dazu aufgerufen, "den neoliberalen Zauber in Europa zu brechen". Sie verteidigen die These, dass der ökonomische Integrationsprozess irreversibel und Europa deshalb zwangsläufig zu unserem Kampffeld geworden ist. Sie widersetzen sich damit gerade auch jener Renaissance national-antiimperialistischer Rhetorik, die unter südeuropäischen Linken – etwa den Kommunistischen Parteien in Italien, Portugal oder Griechenland – zu beobachten ist. Dabei teilen Mezzadra und Negri durchaus die Analyse, dass wir es mit einem "deutschen Europa" und einem Berliner Diktat zu tun haben. Deutschland hat innerhalb Europas heute eine ähnliche Rolle inne wie die USA auf globaler Ebene; es ist nicht einfach ein europäischer Staat unter vielen. Nichtsdestotrotz plädieren Mezzadra und Negri dafür, sich nicht in Verteidigungskämpfen zu verlieren. Wir sollten, so schreiben sie, "die Unumkehrbarkeit der Integration nicht mit der Unmöglichkeit verwechseln, dessen Inhalte und Richtungen zu ändern". Nur der "neoliberale Zauber" lasse uns nämlich glauben, dass Europa zwangsläufig ein autoritäres, neoliberales Projekt ist. Demgegenüber gelte es, eine "konstituierende Hypothese" in Gang zu setzen.

Was verbirgt sich hinter diesem abstrakten Begriff? In mehreren südeuropäischen Ländern haben Linke angefangen, die institutionellen Gebäude – ähnlich wie es in Lateinamerika mit den "verfassunggebenden Prozessen" geschehen ist – in Frage zu stellen. In Spanien wird erstmals seit dem Ende der Diktatur darüber debattiert, dass die Verfassung eine Erbschaft des Frankismus ist und einer echten Demokratisierung im Weg steht. In anderen Ländern geht es um die neoliberalen Fundamente der EU-Integration.

Diese Debatten gilt es aufzugreifen und europäisch zu wenden. Wenn Verfassung und Institutionen der EU die Interessen und Wünsche der Vielen nicht zum Ausdruck bringen, wenn wir es mit Gesetzen und Regierungspraxis zu tun haben, die jeder demokratischen Legitimation entbehren, dann ist es Zeit, Europa neu zu begründen – unter anderen Vorzeichen, gegen die EU, wie sie heute existiert, und in einem wirklich demokratischen Prozess. Zugegebenermaßen ist das ein großes Vorhaben – aber bisweilen ist es realistischer und realpolitischer, prinzipielle Einwände zu formulieren, als einfach mitzusingen im herrschenden Konzert.

Veröffentlicht auf: www.raulzelik.net
Copyright: Raul Zelik
Wir danken dem Autor Raul Zelik für die Veröffentlichungsrechte.

Raul Zelik ist Schriftsteller und Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens

siehe auch: Alexis Tsipras - Spitzenkandidat der Europäischen Linken

 

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